Die Nacht auf dem Wohnmobilstellplatz von St. Quentin war ruhig und angenehm. Wir frühstücken im Wohnmobil und gehen dann durch etwas heruntergekommenere Straßenzüge und Viertel ins Zentrum. Der erste Eindruck von St. Quentin ist eher schlecht. Nachdem wir uns dem Zentrum nähern treffen wir ab und an auf schöne Fassaden oder Häuser im Stil des Art Deco. Dafür soll St. Quentin bekannt sein, denn nach den Zerstörungen des Ersten Weltkriegs wurde hier oftmals in diesem Stil wiederaufgebaut. Wir trinken einen guten Kaffee bei Columbus und sehen uns dann den Hauptplatz an. Er und die umliegenden Gebäude sind prächtig und ansprechend. Das alte spätgotische Rathaus von 1509 mit seiner Flamboyantfassade und Arkaden ist wirklich außerordentlich schön. Doch das wars auch dann quasi schon. Ein paar Schritte weiter befindet sich die Basilika. Das Klosterkapitel von St. Quentin hatte Ende des 12. Jh. entschieden, dass eine größere Kirche her müsse und so begann man mit dem gotischen Bauwerk. Auch hier kann man den Fortgang der Arbeiten als chaotisch bezeichnen, denn man begann mit dem Portalvorbau und Turm, wechselte dann zwischenzeitlich aber zur Apsis und so fort. Jedenfalls war dann in der zweiten Hälfte des 15
Jh. irgendwann das Langschiff fertig. Die Basilika reiht sich in die Runde der picardischen gotischen Großkirchen ein. Wie man in einer vergleichenden Dokumentation in der Kirche sehen kann, wurden die Bauten mit späterem Baujahr immer höher, man wurde entweder mutiger oder wollte den Anderen übertreffen. Wir verlassen St. Quentin und fahren ins nahe gelegene Guise. Hier erwartet uns die Utopie eines Großindustiellen mit ausgeprägter sozialer Ader. Jean Baptiste André Godin war ein Gusseisenfabrikant des 19. Jh. der aus einfachen Verhältnissen stammte. Er hatte Schmied gelernt und zog zunächst als Wanderarbeiter durch Frankreich. Er sammelte Lebenserfahrung und begann sich für soziale Themen und aufklärerische Literatur zu interessieren. 1840 eröffnete er eine kleine Fabrik für gusseiserne Öfen. Rund 20 Jahre später hatte er es unter anderem mit Patenten für diese zu Vermögen gebracht hatte. Er war ein Großindustrieller mit Gießereien und Werken in Guise und Brüssel geworden. Der Selfmade Man erkannte, dass mit der Industrialisierung der Mensch ausgebeutet wurde und interessierte sich zunehmend für sozialistische Strömungen. 1853 war er als Förderer bei einem sozialen Arbeiterprojekt in Texas investiert, dass aber scheiterte. Er beschloss die Dinge vor Ort in Frankreich selbst anzugehen und ließ von 1859 bis 1884 in Guise komfortable und lebensfreundliche Wohnungen neben seinem Werk in Guise errichten. Dieses Projekt bekam den Namen Familistere und bot Schulen, ein Schwimmbad, ein Theater, Parks, Waschräume, Läden, eine Kantine und alles wirkt herrschaftlich- ein Palais social. Die Architektur beachtete Lichtverhältnisse, Belüftung, Freiräume, ja selbst die Gestaltung der Treppenhäuser. Die Wohnungen wurden genossenschaftlich verwaltet. Dieses System funtionierte bis in die 1960er Jahre. Durch Übernahme des Werks verschwand die Cooperative von Kapital und Arbeitskraft und die neue Verwaltung strich als erstes "Schnickschnack" wie soziales Wohnen auf Firmenkosten. Die Wohnungen wurden verkauft, die Gebäude öffentlichen Charakters, wie Schule, Schwimmbad und Theater gingen an die Gemeinde. Lange war dieses Sozialexperiment wenig bekannt geblieben, doch seit 1991 ist die Anlage historisches Monument. In einem Gebäudeteil sind noch heute Sozialwohnungen der Gemeinde. Nachdem wir uns alles stauenend angesehen und uns mit einem Törtchen gestärkt haben, fahren wir abends nach Le Quesnoy. Dies ist ein sehr nettes Festungsstädtchen nahe Valenciennes, das mit seiner toll erhaltenen Vaubanbefestigung mal wieder ein Glücksgriff ist. Doch davon morgen mehr.